Kritikerin Hüster nach Attacke durch Goecke: "War in Schockstarre"
Die Kulturkritikerin der "FAZ" Wiebke Hüster äußert sich im NDR Interview zur Hundekot-Attacke, die am Sonnabend gegen sie verübt wurde. Sie habe sich gefühlt "wie ein Tier, über das ein Löwe hergefallen ist".
Am Sonnabend hat der Ballettchef der Staatsoper Hannover Marco Goecke in der Pause einer Ballettaufführung der Kritikerin der "FAZ" Wiebke Hüster Hundekot ins Gesicht geschmiert. Nachdem sich der inzwischen suspendierte Goecke bereits dazu geäußert hat, schildert Hüster nun im Gespräch mit NDR Kultur, wie die Situation aus ihrer Sicht abgelaufen ist und ob sie insgesamt ein Missverhältnis von Kritik und Kunst sieht. Die Journalistin betont, man könne nicht sagen, dass sie Goecke in einem Zeitraum von 17 Jahren mit negativen Berichterstattungen verfolgen würde. Das sei eine Legende.
Mittlerweile hat sich der suspendierte Ballett-Chef bei Hüster entschuldigt - das Interview mit ihr fand davor statt.
Frau Hüster, Marco Goecke hat sich am Montag geäußert und gesagt, er habe mit Ihnen über Ihre Kritiken sprechen wollen und hat dann von einer "aggressiven, arroganten, herablassenden Reaktion" Ihrerseits gesprochen. Wie haben Sie die Situation erlebt?
Wiebke Hüster: Erstmal muss ich dazu sagen: Herablassung oder Arroganz - das liegt mir vollkommen fern. Das ist wirklich nicht meine Einstellung gegenüber Menschen oder gegenüber der Welt. Ich habe einen Verriss geschrieben. Ich war am Donnerstagabend in Den Haag beim Nederlands Dans Theater, einem fantastischen Ensemble mit ganz hervorragenden Tänzern, und ich war sehr gespannt, was Marco Goecke dort machen würde. Ich fand das Stück schlecht. Das habe ich in meinem Artikel in der "FAZ" auch ganz in Ruhe erklärt. Dieser Artikel stand an dem Samstag, an dem der Premierenabend in der Staatsoper Hannover war, im Feuilleton der "FAZ".
In der ersten Pause dieses dreigeteilten Ballettabends bin ich durch das Foyer und auch im ersten Stock herumgelaufen. Als ich wieder herunterkam, ist Herr Goecke mir in den Weg getreten. Da habe ich gedacht: "Er ist bestimmt verärgert, er hat das Recht auf ein Gespräch mit mir". Also stand ich da ganz ruhig und gelassen, weil ich keine Schuldgefühle hatte. Das ist zwar ein klarer Verriss, aber es ist weder ad personam geschrieben, noch ist es unfair, noch ist es übertrieben, ironisch oder zynisch. Das ist alles gar nicht meine Art. Er sagte zu mir: "Wiebke, was willst Du überhaupt hier?" Ich habe ihn angeschaut und gesagt: "Herr Goecke, das wissen Sie doch. Ich bin Kritikerin und ich rezensiere diesen Ballettabend. Und dann hat er gesagt: "Wir hätten Dir Hausverbot erteilen lassen sollen, weil Du immer so schlimme, persönliche Dinge über mich schreibst."
Dann habe ich zu ihm gesagt: "Herr Goecke, entschuldigen Sie bitte, auch dieser Text ist nicht persönlich. Das geht gegen Ihr Werk, aber nicht gegen Sie." "Ja, aber ich habe Abonnenten-Kündigungen bekommen." Das bezog sich auf einen Satz, mit dem ich ihn zitiert habe. Im Trailer auf der Webseite vom Nederlands Dans Theater sagt er: "Ich mache meine schönsten Stücke in Den Haag." Das habe ich zitiert und habe gesagt, dass mich das als Intendanz der Staatsoper Hannover, die einen Ballettdirektor und Chefchoreografen Goecke bezahlt, nachdenklich stimmen würde. So schnell konnte ich gar nicht gucken, hatte ich diese Tüte mit Hundekot in meinem Gesicht. Der hat die im Nullkommanichts aus der Tasche gezogen und sie mit der offenen Seite auf meine rechte Wange geknallt und verrieben. Dann hat er diese Tüte einfach so ins ins Foyer auf den Boden geschmissen, hat sich dann umgedreht und ist weggegangen.
Wiebke Hüster: "Ich war schockstarr, in Panik"
Was haben Sie in dem Moment gedacht?
Hüster: Gar nichts. Ich war schockstarr. Wenn jemand ihre physische Unversehrtheit verletzt, dann denken Sie nichts, dann sind Sie wie so ein Tier, über das ein Löwe hergefallen ist. Sie fragen sich: Lebe ich noch? Bin ich unversehrt? Dann habe ich diese Tüte gesehen, habe realisiert, was das ist und habe geschrien. Eine 57-jährige Frau, die in Ausübung ihres Beruf ist, steht da und schreit. Ich war in Schockstarre, ich war in Panik.
Goecke hat gesagt, dass "die Wahl der Mittel sicherlich nicht super war", er hat sich bisher aber nicht bei Ihnen entschuldigt. Erwarten Sie diese Entschuldigung von ihm?
Hüster: Seine Argumentation ist: "Seit 20 Jahren schreibt diese Frau schreckliche Sachen über mich - jetzt ist das Fass übergelaufen". Dieser Art der Legendenbildung möchte ich aufs Entschiedenste entgegentreten. Ich habe das noch einmal im Archiv recherchiert: In einem Zeitraum von 17 Jahren habe ich neun Mal in der "FAZ" über Stücke von Marco Goecke geschrieben. Von diesen neun Kritiken waren zwei überschwänglich positiv. Da kann man nicht sagen, dass ich ihn in einem Zeitraum von 17 Jahren mit negativen Berichterstattungen verfolgen würde. Das ist eine Legende.
Haben Sie diese Recherche gemacht, um sozusagen den Gegenbeweis zu liefern? Oder haben Sie nach all dem doch selbstkritisch gefragt: Habe ich wirklich irgendetwas falsch gemacht?
Hüster: Nein, mein Arbeitsansatz ist doch ein ganz anderer. Ich reise doch nicht herum - da gab es vielleicht Fälle in der Kritikergeneration vor mir - und denke: "Da fahre ich jetzt hin und kann einen richtigen, knackigen Verriss schreiben!" Bitte, ich bin doch kein Monster, ich bin doch kein Masochist. Die Art, wie ich die Premieren aussuche, zu denen ich fahre, da gibt es ganz einfache Kriterien: Entweder das Haus ist groß und wichtig - dann muss man gucken, was an diesem Haus passiert. Deswegen war ich in Hannover. Oder ich verfolge die Arbeit eines jungen Choreografen, den ich entdecke: Dann fahre ich immer wieder dahin und schaue zu, wie der seine Kräfte entfaltet, wie der immer besser wird. Das ist doch das Schöne an meinem Beruf, ich möchte doch meinen Lesern sagen: "Schaut mal, wie toll diese Welt ist, guckt euch das an!"
Und wenn jemand etwas macht, was mir nicht so gefällt - wie im Fall Marco Goecke -, dann kann ich sagen: Ja, viele feiern ihn jedes Mal und finden den ganz toll. Er choreografiert wirklich weltweit und ist sehr gefragt. Da mache ich es so: Wenn mir etwas nicht so gefallen hat, dann mache ich ab und zu Stichproben. Meine Berufung entsteht aus meiner Begeisterung für den Tanz. Ich begreife mich als eine Anwältin dieser Kunstform.
Sie haben dabei mit vielen Choreografinnen und Choreografen zu tun. Würden Sie denn sagen, dass das wirklich ein Einzelfall ist? Oder merken Sie, dass über die Jahre das Verhältnis von Kritik und Kunst angespannter wird?
Hüster: Nein, angespannter - das würde ich nicht sagen. Was mich sehr erschrocken hat, war die Bemerkung der Intendantin Karin Beier, die sie 2019 in einem Podcast gemacht hat: Sie hat gesagt, die Kritik sei die Scheiße am Ärmel der Kunst. Diese Art von Sprache finde ich unglaublich roh, und ich verstehe auch nicht, wie man das so negativ zuspitzen kann. In der Welt der Kunst, des Theaters gibt es viele Stimmen, die sagen, dass es wichtig ist, dass es Influenzer gibt, Blogger, dass sich alle im Diskurs miteinander befinden. Ja, das finde ich auch. Aber, dass die daraus den Schluss ziehen, dass wir keine alten weißen Menschen mehr brauchen, die ihnen erzählen, was im Tanz oder in einer anderen Kunstform gut ist - da kann ich nur zurück sagen: Ja, ich bin vielleicht alt und weiß, aber ich will euch auch gar keine Meinungen oktroyieren.
Meine Texte sind eine Einladung zum Gespräch. Meine Texte sind ein lautes Nachdenken über eine Kunstform, die ich seit 40 Jahren liebe. Ich schreibe meine Texte aus dem Ansatz heraus, dass ich in der Tanzwelt mit meinen Argumenten wahrgenommen werden möchte. Und gleichermaßen möchte ich inklusiv schreiben und Menschen für diese Kunstform begeistern, die vielleicht so selber nicht da reingehen würden oder Vorurteile dagegen haben. Diese Bandbreite versuche ich in meinen Texten einzufangen.
So gehen Sie bisher vor. Aber hat sich jetzt mit diesem Vorfall vom Wochenende bei ihrer Arbeit konkret irgendetwas verändert?
Hüster: Nein. Es ist mir in 25 Jahren nie so etwas Furchtbares passiert, und ich glaube auch nicht, dass ich jetzt unter einem schlechten Stern lebe und es passiert nächsten Monat wieder irgendetwas Furchtbares. Ich bin am nächsten Morgen aufgewacht - und ich glaube, deswegen geht es mir auch schon wieder so gut - und habe gedacht: Das war schrecklich, das war wirklich grauenhaft in dem Moment - aber ich bin davongekommen. Er hat nur das gemacht, und das kannst du abwaschen. Du bist zur Polizei gegangen und hast diese Straftat zur Anzeige gebracht. Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat jetzt noch eine Strafanzeige gegen ihn erstattet. Jetzt kann ich von diesem Vorfall berichten, kann das richtigstellen und kann sagen, dass ich es keineswegs seit 20 Jahren auf dem Schirm habe, negativ über Herrn Goecke zu schreiben. So ist es nicht. Es war ein singuläres Ereignis, und es wird meine Liebe zu meinem Beruf nicht schmälern. Es wird auch mein Gefühl bei meiner Berufsausübung nicht trüben können.
Das Interview führte Jan Wiedemann.